Im Rückblick auf die Entwicklung des Ortes Seebad Heringsdorf nimmt die Gründung der Aktiengesellschaft Heringsdorf im Jahre 1872 einen besonderen Platz ein.
Nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 kam es zu einer Gründungswelle im gesamten Deutschen Reich. Hiervon profitierten besonders der Verkehr, der Handel und die Industrie. Im Bereich Fremdenverkehr/ Tourismus blieb die Gründung einer solchen Kapitalgesellschaft die absolute Ausnahme.
Heringsdorf entwickelte sich in den nächsten 64 Jahren von einem kleinen Badeort zu einem mondänen Weltbad. Dies geschah bis zum Jahre 1914 nicht nur durch einzelne private oder staatlich-kommunale (seit 1879 gemeindliche) Interessen und Entscheidungen, sondern durch einen Vorstand samt Aktionären, die auf einen wirtschaftlichen Erfolg dieser Gesellschaft angewiesen waren.
Ihr Zweck war die Bewirtschaftung der Immobilien und der elektrischen Versorgungsanlage in Seebad Heringsdorf. Nur durch den planvollen stetigen Ausbau wurde der Zweck gleichfalls zum Ziel der Gesellschaft.
Obwohl diese formal eine Kapitalgesellschaft war, wurde sie vor allem durch die Bankiers-Familie Delbrück geführt. Neben den Gründern Adalbert und Hugo Delbrück, sind die Söhne von Hugo Delbrück, Viktor und Werner Delbrück, prägend gewesen. Weitere verwandte und verschwägerte Personen der Familie Delbrück waren in Vorstand und Aufsichtsrat tätig.
Im Jahre 1879 wurde die Gemeinde Seebad Heringsdorf gegründet. Es fand nunmehr einerseits eine gemeindlich-öffentliche und andererseits eine kapitalgesellschaftlich-wirtschaftliche Entwicklung statt.
Nach dem Ersten Weltkrieg und dem Zusammenbruch des Deutschen Kaiserreichs kaufte schließlich die Gemeinde am 15. April 1921 das Bad von der Aktiengesellschaft für 600.000 Mark und übernahm den Kurbetrieb mit seinen Einnahmen aus der Kurtaxe. Dazu gehörten die Seebrücke samt Wellenbrecher, das Familienbad, das Strand-Casino, das Warmbad, fünf Strandbäder, die elektrischen Anlagen und später das Wasserwerk sowie freie Bauparzellen.
Am 2. November 1922 änderte sich der Name von Aktiengesellschaft Seebad Heringsdorf zu Aktiengesellschaft Heringsdorf. Diese sollte noch bis zur Erlöschung am 30. September 1936 Bestand haben und endgültig auf die Gemeinde Seebad Heringsdorf übergehen.
Auch heute finden sich noch Spuren der einstigen Aktiengesellschaft im Ortsbild: Das Denkmal an der Promenade zu Ehren Dr. Hugo Delbrücks und den Gedenkstein für Werner Delbrück im Heringsdorfer Wald, die Bezeichnungen Delbrückstraße, Am Aktienhof, Damenbadweg, die Werkstattgebäude am Aktienhof, das jetzige Tourismusservicezentrum samt Bibliothek, der Hort „Alte Feuerwache“ und die Wohngebäude an der Brunnenstraße (Nr. 8 ) und an der Rudolf-Breitscheid-Straße (Nr. 5). Der Sitz der Gesellschafft befand sich einst in der Liehrstraße (Nr. 1).
Die Geschichte und Entwicklung unseren heutigen Gemeinde Ostseebad Heringsdorf hängt auch im 21. Jahrhundert maßgeblich vom Fremdenverkehr/ Tourismus ab. Daher ist es umso wichtiger, einen lebenswerten, attraktiven Ort für Einwohner und Gäste auch in Zukunft zu gestalten.
Am 5. November 2022 ehrt die Gemeinde Ostseebad Heringsdorf das 150. Jahr der Gründung der Aktiengesellschaft Seebad Heringsdorf mit einem Festball im Kaiserbädersaal im Hotel Kaiserhof zu Seebad Heringsdorf.
Sven Brümmel,
Lehrer an der Grundschule Heringsdorf, Leiter der Arbeitsgemeinschaft „Ortsgeschichte Heringsdorf“,
Vorsitzender des Geschichtsverein der Kaiserbäder Ahlbeck – Heringsdorf – Bansin e.V. &
Gemeindevertreter und stellvertretender Vorsitzender der Gemeindevertretung der Gemeinde Ostseebad Heringsdorf
im Oktober 2022